Stand der Forschung

 

Hochsensibilität in der empirischen Psychologie

(Alex Bertrams, Universität Erlangen-Nürnberg, Lehrstuhl für Pädagogische Psychologie)


Die grundlegende Arbeit zum Konstrukt der Hochsensibilität wurde von Aron und Aron (1997) veröffentlicht. In dieser Arbeit leiten die Autoren das Konstrukt unter Bezugnahme auf frühere Forschungsarbeiten her. Sie beziehen sich u.a. auf eine Arbeit, nach der 15-25% der Individuen einer Population auf die Konfrontation mit Reizen anders reagieren als die übrigen Populationsmitglieder (Kagan, 1994) und argumentieren, dass dies an einer vergleichsweise offeneren und subtileren Wahrnehmung sowie einer intensiveren zentralnervösen Verarbeitung von inneren und äußeren Reizen liege. Diese Reizoffenheit gehe außerdem mit einer stärkeren Erregbarkeit einher, die in reizintensiven Situationen leicht zu Übererregung führe. Aron und Aron (1997) nennen das dem zugrunde liegende Temperamentsmerkmal "sensory-processing sensitivity" und sprechen auch von "highly sensitive persons".

An früheren Forschungsarbeiten kritisieren Aron und Aron (1997) die Konfundierung von Merkmalen der Hochsensibilität mit anderen psychologischen Merkmalen wie sozialer Introversion, negativer Emotionalität, Schüchternheit oder Gehemmtheit. Aron und Aron (1997) bringen selber erste empirische Evidenz dafür, dass Hochsensibilität konzeptuell von sozialer Introversion und negativer Emotionalität zu trennen ist. Des Weiteren zeigen Aron, Aron und Davies (2005), dass mit Hochsensibilität korrelierende Schüchternheit und negative Emotionalität in erster Linie bei den hochsensiblen Personen zu finden sind, die von einer ungünstigen elterlichen Umwelt während ihrer Kindheit berichten. Man kann diesen Befund dahingehend interpretieren, dass Hochsensibilität eine sensible Grunddisposition darstellt, auf der negative Einflüsse der Entwicklungsumwelt leichter ihre Wirkung entfalten können (siehe aber auch Liss, Timmel, Baxley & Killingsworth, 2005). Der Befund spricht für die konzeptuelle Trennung von Hochsensibilität auf der einen Seite und Schüchternheit und negativer Emotionalität auf der anderen Seite.

Die Messung von Hochsensibilität wird mit der von Aron und Aron (1997) entwickelten Highly Sensitiv Person Scale (HSPS) - einer aus 27 Fragen bestehenden psychometrischen Skala - vorgenommen. Während Aron und Aron (1997) eine eindimensionale Struktur der Skala und damit des Konstrukts Hochsensibilität feststellen, finden Smolewska, McCabe und Woody (2006) die drei schwach korrelierenden Faktoren Ästhetische Sensibilität, Niedrige Reizschwelle und Erregbarkeit. Die Frage, ob Hochsensibilität ein homogenes Konstrukt ist oder sich aus Komponenten zusammensetzt, die nicht gemeinsam auftreten müssen, ist m.E. noch nicht abschließend behandelt. Was die Messung von Hochsensibilität anbelangt, wäre zukünftig auch der Einsatz zusätzlicher Methoden (z.B. physiologischer Messungen) wünschenswert.

Die Anzahl der Studien, die bislang auf der grundlegenden Arbeit von Aron und Aron (1997) aufgebaut haben, hält sich in Grenzen. Das spiegelt allerdings nicht die wissenschaftliche Qualität von Aron und Arons (1997) Arbeit wieder, die immerhin in einer der angesehensten und im Auswahlprozess kritischsten Fachzeitschriften der wissenschaftlichen Psychologie veröffentlicht wurde. Die Studien, die sich bislang dem Thema direkt - das heißt unter Bezugnahme auf Aron und Aron (1997) - gewidmet haben, haben in erster Linie die negativen Aspekte der Hochsensibilität thematisiert, wie z.B. Zusammenhänge mit Ängsten und Depressionen (siehe die Liste empirischer Literatur unter "Bibliographie"). Dies wird dem Thema m.E. nicht gerecht. Es ist beispielsweise zu fragen, ob nicht auch positive Reize von hochsensiblen Menschen intensiver verarbeitet werden (einen ersten kleinen Schritt in diese Richtung machten Aron und Aron, 1997, in Studie 5). So bleibt festzuhalten, dass es zum Thema Hochsensibilität noch viele offene Forschungsfragen gibt. Auch so manche Behauptung über hochsensible Personen in der populär-wissenschaftlichen Literatur bedarf erst noch einer empirischen Belegung.

Zitierte Literatur:

Aron, E. N., & Aron, A. (1997). Sensory-processing sensitivity and its relation to introversion and emotionality. Journal of Personality and Social Psychology, 73, 345-368.

Aron, E. N., Aron, A., & Davies, K. M. (2005). Adult Shyness: The Interaction of Temperamental Sensitivity and an Adverse Childhood Environment. Personality and Social Psychology Bulletin, 31, 181-197.

Kagan, J. (1994). Galens prophecy: Temperament in human nature.
New York: Basic Books.

Liss, M., Timmel, L., Baxley, K., & Killingsworth, P. (2005). Sensory processing sensitivity and its relation to parental bonding, anxiety, and depression. Personality and Individual Differences, 39, 1429-1439.

Smolewska, K. A., McCabe, S. B., & Woody, E. Z. (2006). A psychometric evaluation of the Highly Sensitive Person Scale: The components of sensory-processing sensitivity and their relation to the BIS/BAS and "Big Five". Personality and Individual Differences, 40, 1269-1279.


Teile dieses Textes sind abgedruckt bei Blach, C., Egger, J. W. (2011). "Hochsensible Persönlichkeit" - Bericht zum Forschungsprojekt Hochsensibilität. Psychologische Medizin, 2011/22 (2), 59-63.