Brennender Schnee 
Hochsensibilität auf den Brettern, die die Welt bedeuten 

 
Am 25. November 2017 hatte in der Kulturinsel Stuttgart das Theaterstück Brennender Schnee – Eine theatrale Wunderkammer Premiere, welches das subjektive Erleben Hochsensibler mit Mitteln des Theaters darstellen sollte. Nach unserer Kenntnis handelte es sich bei Brennender Schnee um den ersten Versuch überhaupt, das Sujet auf die Bühne zu bringen.

Sind moderne Künste in der Lage, der heutigen schnelllebigen Zeit eine gewisse unaussprechliche Tiefe zu verleihen? Sind sie imstande, eine Sprache zu finden, die geeignet ist, etwas mitzuteilen, was schwer zu begreifen ist?

Mein Mann und ich waren uns einig: Sollte es dem Regisseur dieses Theaterstücks gelingen, normalsensitive Menschen temporär in die Welt der Hochsensiblen zu entführen, so wäre das eine Meisterleistung. So dachten wir, als wir uns entschieden, eine Reise aus unserem idyllischen und ruhigen Dorf von 2000 Seelen in die Landeshauptstadt von Baden-Württemberg zu unternehmen: Eine viel zu kleine Stadt für zu viele Menschen mit entsprechend hohem Verkehrsaufkommen.

Doch Stuttgart schien (diesmal) eine Reise wert zu sein, hatte der Regisseur doch versprochen, Hochsensibilität durch Lichtimpulse und Tonverstärkung in visuellen und auditiven Reizen erlebbar zu machen. Grund genug, begeistert zu sein! Und so lud ich meinen nicht hochsensiblen Mann hochmotiviert ins Theater ein. Herrlich war die Vorstellung, durch nur einen Theaterbesuch ihm all mein Empfinden näher zu bringen. Würden meine Hoffnungen Realität werden, oder würde sich die Vorstellung als Darbietung einer Seifenoper entpuppen, mit der alle kühnen Träume zerplatzen und sich in Luft auflösen?

Mein Mann beschloss im Gegenzug, mich vorher zu einem griechischen Essen einzuladen. Sicher auch, um auszuschließen, dass seine hochsensible Frau plötzlich an einer unvorhersehbaren Hypoglykämie leiden könnte, denn das würde ihn in eine groteske Situation manövrieren. Und so ergab sich ein wundervolles Gespräch bei Tisch, bei dem wir Theaterstück durch das Spielenlassen der Phantasie einer Vorabanamnese unterzogen: Wie ist es möglich, Hochsensibilität grundsätzlich begreifbar zu machen? Und wie kann dies mit dramatischen Mitteln geschehen? Nach gründlicher Diskussion beschritten wir den Weg zur nahegelegenen Kulturinsel.

Vor dem Theaterraum waren weiße Badelatschen aufgereiht: Jeder Zuschauer sollte sein eigenes Paar Schuhe ablegen, um in die weißen Latschen zu schlüpfen. Alles hat einen tiefen Sinn, ging mir in Moment des Einsinkens in ein fremdes Schuhwerk durch den Kopf. Ein Einstieg in den Aufführungsraum war etwas befremdlich: Niemand durfte einfach die Tür benutzen; ein Hindernis war zu überklettern, um in einen Raum zu gelangen, der nur über eine Poolleiter zu erreichen war.

Purpur-weiß, dachte ich im ersten Augenblick: Der ganze Raum war ausgekleidet mit weißer Folie und Laken. Ganz die Farbe meiner neuen Schuhe. Es machte den Ein-druck, als wolle der Regisseur uns mitnehmen in eine absolut andere Welt. Wir tauchten ab.

Jeffrey Döring, künstlerischer Leiter der Inszenierung, hatte im Vorfeld im Rahmen ei-nes sehr schönen Interviews mit der Stuttgarter Zeitung darauf hingewiesen, dass man sich an der Erzählung Undine (de la Motte Fouqué) und der gleichnamigen Oper orientiert habe. In dem Lichte machte das Erscheinungsbild Sinn: Eine imaginäre Wasserwelt, dekoriert u. a. mit einem fliegenden Hai (Helium), einem Schlauchboot, Paddeln, von der Decke hängenden Meerjungfrauflossen, mit Wasser gefüllten Eimern, einem überlebensgroßen Bilderrahmen und einem langen Tisch mit allerlei Tand.

In dem Bilderrahmen saß eine rosa gekleidete Frau namens Bertalda, dargestellt von Laila Richter, nicht hochsensibel und Verflossene von Huldbrand. Sie war unentwegt damit beschäftigt, durch ihre Präsentation alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Huldbrand selbst, ebenfalls nicht hochsensibel und dargestellt von Johannes May, suchte in einem Radio einen Sender, der ein Lied ausstrahlte, das seine Angebetete Undine zu ihm führen könnte. Als Huldbrand sein Scheitern feststellen muss, beginnt er, ungeduldig nach der hochsensiblen Undine zu rufen, die durch Lisa Ströckens dargestellt wurde. Doch diese Art des Kontaktversuches wird durch Undines platonischen Freund, der hochsensibel war und von Pascal Zurek dargestellt wurde, gestört, wobei dieser dieselbe Sprache spricht, wie Undine: klassischen Gesang.

Undine reagiert nicht auf das Rufen, was Huldbrand fast zur Verzweiflung bringt: Wie ist es zu schaffen, Undines Aufmerksamkeit zu erlangen? Er unternimmt den nächsten Versuch und verteilt mittels Wassertropfen eine Spur, die sie zu ihm führen soll. Doch nachdem auch dies nicht zum Ziel führt, steigt Huldbrand in das Schlauchboot und paddelt mühevoll hinaus auf das Meer. Erst, als er weit draußen ist, fasst sie Vertrauen. Undine steigt als Meerjungfrau aus dem Wasser ihrer Wahrnehmungen und Empfindungen in das für Huldbrand sichere Boot. Dient das Meer als Symbol für Transzendenz und für Undines Affinität zum Wasser? In das voll und ganz zu versinken sie imstande ist?

Bald zeigen sich diverse Unterschiede zwischen Undine und Huldbrand. Undine kommuniziert über eine ausdrucksstarke und professionell wirkende Art des klassischen Gesangs; eine Kunst, die Huldbrand nicht beherrscht. Und so versucht er mittels Kassettenaufnahme, die er zuvor von Undines hochsensiblen Freund überreicht bekam, Undines Sprache zu imitieren. Doch so kommt es zu Missverständnissen und Huldbrand brüllt Undine mehrmals an: „Ich versteh’s nicht!“ – was im Theater durch Sounddesign untermauert wird – und er meint damit, dass er ihr ganzes Wesen nicht versteht.

Aus dem Off erhält Huldbrand eine Art Bedienungsanleitung für hochsensible Partner, was ihn veranlasst, Undine in eine aufgeblasene Muschel zu stellen, um ungeduldig zu sagen: „Na mach!“ Doch Undine scheint die Rolle einer Göttin (und sei es Venus) gar nicht zu liegen und versucht mit allen ihr möglich erscheinenden nonverbalen Mitteln, dies zu kommunizieren.

Nach wie vor romantisch an Huldbrand interessiert ist die Dame des Bilderrahmens, Bertalda, die sich nun Gehör verschaffen will. Und so versucht sie, Undine zu vermitteln, inwiefern sie komisch sei und was zu tun wäre, um so zu werden, wie Bertalda es ist. Doch das wird nicht klappen.

Und so sieht sich Bertalda schon als baldige Gattin Huldbrands. Daraus wird jedoch auch nichts, denn Huldbrand hat durch Undine die Tiefe und den Reichtum des Lebens geschmeckt und kommt mit der Oberflächlichkeit Bertaldas nicht mehr zurecht. Er zieht sich den viel zu engen Taucheranzug vom Leib und symbolisiert dadurch – untermauert durch Selbstgespräche – einen Ausstieg aus seiner alten Sicht auf das Leben, seine neue geistige Freiheit und erlebte Feinheit, um wieder in die Nähe Undines zu gelangen, was schlussendlich gelingt.

Jeffrey Döring hatte den Stuttgarter Nachrichten erzählt, wie ihn das Märchen „Die kleine Seejungfrau“ von Hans Christian Andersen stark beeindruckt hatte. Er fragte sich: Hätte die kleine Seejungfrau nicht auch eine Chance gehabt, wäre sie schlicht sie selbst geblieben und in dieser Form dem Prinzen begegnet? Doch sie durchtrennt sich den Fischleib mit einem Messer und lässt sich ihre Zunge herausschneiden. Das sind enorme Qualen, die sie in Kauf nimmt, um im Ergebnis trotzdem nicht so zu werden, wie alle anderen. In Brennender Schnee ist es anders: Undine bleibt sich selbst treu und wird dadurch gefunden.

Ich muss zugeben, selten hat mich ein Theaterstück so tief berührt wie Brennender Schnee. Jeffrey Döring hat ein Meisterstück geschaffen, in dem in der Tat professionelle Künstler auf höchstem Niveau durch Kunst und Technik Hochsensibilität auf die Bühne bringen.


Autorin: Melanie Stein; https://kunst-lifecoaching.de
Erscheinen geplant in Intensity 9.