Hochsensible Männer und die Alpha-Hierarchie 
Ethologische Wurzeln eines Rollenkonfliktes 

 
Die Behauptung, Hochsensibilität sei zwischen den Geschlechtern gleich verteilt, spiegelt sich nicht in Reaktionen auf das Bekannterwerden des Konstrukts wider: Anscheinend tun sich Männer schwerer damit, sich mit ihrer Sensibilität auseinanderzusetzen oder sich zu ihr zu bekennen. Ist man sich selbst gegenüber ehrlich, muss man eingestehen, dass das intuitiv einleuchtet. Eine Erforschung der Gründe für diese Intuition fördert ethologische Erklärungsansätze zutage.

Befragt, warum Männer Schwierigkeiten haben, sich zu ihrer Sensibilität zu bekennen, würde man vermutlich darauf verweisen, dass das männliche Rollenmodell vom Mann Stärke, Härte und Unempfindlichkeit verlangt und dass dies Sensibilität ausschließt; ein Mann soll kein Weichei sein. Eine entsprechende Befragung der Popkultur, die in Bezug auf menschliche Wünsche und Bedürfnisse häufig ehrlicher ist, als Höflichkeit oder Political Correctness gestatten würden, liefert erste Hinweise, dass dies damit zu tun hat, dass das Männlichkeitsideal durch die Anforderungen physischer Auseinandersetzungen, also des Kampfes geprägt ist.

So sehnt sich die Sängerin Bonnie Tyler in ihrem Lied I Need a Hero eben nach einem „Helden“, der „stark“ und „schnell“ ist und „gerade von einem Kampf“ kommt. Die Kabarettistin Caroline Kebekus meint in ihrem Programm, ein Mann müsse „dreckig sein und am besten noch irgendwo bluten; vom Schwertkampf oder so“. DER SPIEGEL rühmt die Darstellung der Figur James Bond durch den Schauspieler Daniel Craig: „In manchen Szenen schafft [Craig] es sogar, jenes Virile, brutal Animalische zu verströmen, über das Sean Connery in seinen ersten Auftritten als Bond verfügte“.

Anscheinend sind echte Männer also in der Lage, sich in einem physischen Kampf (auf Leben und Tod) zu behaupten, und bereit, sich einem solchen zu stellen. Dies scheint in der Tat Sensibilität nicht zu vertragen: Frech gesagt flüchtet der reizüberflutete Mann vom Schlachtfeld, ist der zweifelnde Mann kein Kämpfer, der vorbehaltlos letzte Energien mobilisiert und hat der empathische Mann zu viel Verständnis für den Feind. Insoweit ist anscheinend geringe Reizempfindlichkeit das apperzeptive Äquivalent von Aggression; der Rollenkonflikt besteht also, scharf bestimmt, zwischen Sensibilität und der Erwartung, aggressiv zu sein und Aggression ausüben zu können.

Liegt’s am bösen Kapitalismus oder an der Verderbtheit der westlichen Welt? In diesem Fall wäre der beschriebene Konflikt ein Phänomen, das als kontingent zu bezeichnen wäre: Kontingenz ist der philosophische Fachbegriff für einen Umstand, der quasi zufälligerweise Ergebnis eines komplexen Systemprozesses ist und genauso auch anders sich hätte entwickeln können. Freilich ist Kultur eine Interpretation der Natur (Norbert Bischof); insofern sind Kulturen, die den friedfertigen Mann propagieren, kein Beweis für die gesuchte Kontingenz.

Gibt es also eine biologische Neigung von homo sapiens sapiens, zu erwarten, dass ein Mann aggressiv ist im Sinne einer Erwartungshaltung? An unerwarteter Stelle finden wir einen Hinweis; der Autor bittet um Geduld, weil nun ein kleiner Exkurs vonnöten ist.

Der britische Zoologe Desmond Morris wurde berühmt als Autor, der den Menschen aus zoologischer Perspektive, genauer: aus der Perspektive des Verhaltensforschers (Ethologe; nicht: Ethnologe) betrachtet. Sein bekanntestes Werk Der nackte Affe trägt seinen Namen, weil der Mensch die einzige Primatenart ist, die kein Fell besitzt. In seinem Buch Der Menschenzoo äußert sich Morris auch zu den Gründen der Homophobie, also der Angst vor Homosexuellen bzw. dem Unbehagen angesichts von Homosexualität.

Sein Gedankengang ist ungefähr dieser: Ein Primatenerbe des Menschen ist das Bedürfnis, die Gesellschaft hierarchisch zu strukturieren. An der Spitze der Hierarchie steht das Alphatier. In Primatengesellschaften ist entscheidendes Merkmal des Alphatiers sein privilegierter Zugang zu Weibchen. Anders gesagt lässt sich die Stellung des Tiers in der Hierarchie eben an seinem Zugang zu Weibchen ablesen.

Homosexuelle Männer haben in diesem Spiel der Hierarchiebildung so Morris, einen „scheinbar unfairen Vorteil im Kampf“ um den Sozialstatus, weil sie nicht mit den heterosexuellen Männern um Frauen konkurrieren müssen. Morris spricht davon, dass ein Versuch der Kompensation dieses Vorteils darin besteht, den Homosexuellen „dadurch auszustechen, daß man ihn lächerlich macht“. Wir verallgemeinern und sagen, dass Homosexuelle nach dieser Lesart Unbehagen verursachen, weil sei die überkommenen Mechanismen der Hierarchiebildung infrage stellen.

Und wir glauben, dass in dieser Richtung auch die Gründe für die Verächtlichmachung sensibler Männer zu suchen sind. Der Prozess der Hierarchiebildung funktioniert in der Alphahierarchie der Primatenwelt nämlich durch Gewalt: Das Alphatier unterdrückt Konkurrenten um seine Position buchstäblich gewaltsam bzw. durch die Androhung von physischer Misshandlung. Damit erwarten die Beteiligten in diesem Prozess, dass alle anderen Beteiligten auch grundsätzlich willens sind, Gewalt auszuüben; es existiert eine entsprechende Rollenerwartung.

Kommuniziert der hochsensible Mann nun Sensibilität, also das apperzeptive Äquivalent von Gewaltlosigkeit, kommuniziert er damit, dass er nicht beabsichtigt, an dem Prozess der Hierarchiebildung in Form der Gewaltausübung teilzunehmen. Damit stellt er die Spielregeln des bekannten Prozesses der Hierarchiebildung infrage.

Insoweit hat der Vorwurf, ein Weichei zu sein, in zweierlei Hinsicht appellativen Charakter: Zum einen ist er Affirmationsbegehr bezüglich der überkommenen Mechanismen der Hierarchiebildung. Zum anderen ist er Affirmationsbegehr bezüglich der Befähigung des Vorwerfenden, seine Rolle in dem Spiel der Hierarchiebildung zu spielen: Wenn ich vorwerfe, dass ein anderer ein Weichei ist, impliziert das, dass ich es gerade nicht bin.

Wir hoffen, dass Einsicht in diese Mechanismen Männern dabei hilft, Gelassenheit zu entwickeln, was den Vorwurf – auch und gerade sich selbst gegenüber –, kein harter Kerl zu sein, angeht. Niemand zwing den hochsensiblen Mann, einem Affirmationsbegehren der genannten Art zu entsprechen.

Dieser Text ist die Zusammenfassung eines Vortrags vom 21. Januar 2020 an der Leibniz-Universität Hannover, der zuvor auch im Rahmen eines Fachtags zum Thema Hochsensibilität in der Schule im September 2019 in Dortmund gehalten wurde.


Autor: Michael Jack
Erscheinen geplant in Intensity 9.